Publikationen

Einheit von Rhythmus, Metrum und Rubato in Joh. Seb. Bach´s Sechs Soli

Erschienen im Band des "Associazione culturale 'M° Rodolfo Lipizer' - ONLUS Gorizia", Italia 
XVIII Convegno internationale sul Violino (2000) Technika e arte nell' opera violinistika di J.S.Bach
Editioni Santabarbara ISBN 978-88-87512-21-2

I.
Kraftvolle Schönheit weht aus der Handschrift Bachs in seinen Sei Solo á Violino senza Basßo accompagnato. Schwungvoll gewundene oder schlichte gerade Balken verbinden die Noten. Das Notenbild wirkt expressiv und suggestiv auf den Betrachter. Sollte es das, oder ist es purer Zufall? Manchmal sind der eine oder zwei die Noten verbindenden Balken gerade, manchmal geschwungen. Doch, die Dreier- und Viererbalken sind immer geschwungen! In die Frage, ob es sich eventuell um Charakter- oder Dynamiknotation handeln könnte, möchte ich mich hier nicht vertiefen. Jedenfalls, minutiöse Akribie und Detailverliebtheit darin zu sehen, scheint mir unangemessen. Dagegen scheint mir klar zu sein, dass Bach mit dieser präzisen Notation der kleinen und kleinsten Werte, die den geistigen Gehalt der Musik offenbaren können, dem Interpreten den Weg zu dessen Erfassen weist. Denn, (Telemann: Verzierungslehre) verzieren muss nur derjenige, der den geistigen inhalt der Musik ohne Verzierung nicht zu erreichen vermag. Manche sahen (andere sehen es noch) in der Bach´schen Fixierung aller Verzierungen das Ende der Improvisationskunst. Dem ist nicht so! Bach hat durch seine Notation die Möglichkeit ergriffen, den Interpreten zu zwingen der geistigen Welt seines Werks näher zu kommen. Natürlich mit wechselhaftem Erfolg. Was beweist, dass Interpretation und Improvisation so lebendig wie eh und je sind. Und sein müssen! Doch, seit Bach ist die Improvisation vom zwanghafen Modellieren der musikalischen Materie befreit und kann sich dem geistigen Inhalt der Musik widmen. Denn, "am Anfang war der Rhytmus"...


II.
Wenn wir uns dem Adagio g-moll BWV 1001 zuwenden, stehen wir vor einem Rätsel: wie könnten/sollten alle die akribisch platzierten kleinen Noten ausgeführt werden, ohne deren Wert zu verändern? Wie ist eine Notation zu verstehen, wenn von dem Wert einer 128tel noch die Hälfte ihrer Zeit abzuzwacken ist, um den Bass des folgenden Akkords noch "vor der Zeit" zu nehmen? 
Einerseits wird das Tempo von dem inneren Zusammenhang der halbtaktigen Akkordsäulen bestimmt. Andererseits verlangen die schnellen Notenwerte nach viel langsamerem Tempo. Wenn man kuzerhand das Stück als Präludium oder als Phantasie deklariert, fallen alle Widrigkeiten weg. Man spielt die Notenhöhen, die Notenwerte lässt man unbeachtet. Der Rhytmus kommt nicht komplett zum Erliegen: die halbtaktig in Erscheinung tretenden Rhythmussäulen erfüllen größtenteils ihre Funktion. Wirkung kann auch diese Interpretation erzielen - der Phantasie und der Improvisationskunst sind niemals Grenzen gesetzt. Doch, die Phantasie des Interpreten sollte den Komponisten nicht einer unsinnigen Schreibwut bezichtigen. Bach konnte, wenn er wollte, auch Präludium oder Phantasie komponieren! Doch, er komponierte Adagio. Und notierte penibel genau seinen geistigen Inhalt. Mit seiner Phantasie sollte der Interpret all die offensichtlichen Widrigkeiten zu vereinen suchen. Hier bekommt er von Bach ein geistiges Ziel auferlegt: Der Mensch hat seinen Platz zwischen Himmel und Erde zu erkennen und zu behaupten.

Durch die genaue Notierung aller Verzierungen bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, alles der Notation gemäß - z.B. unter Zuhilfenahme eines Metronoms - auszuspielen, hat Bach den Geigern mit dem Adagio g-moll eine harte Nuss gegeben. Die Prämisse, dass Bach es nicht so gemeint haben soll, wie er es aber notierte, ist meines Erachtens zu bequem, um richtig zu sein. Zwar hat er das Stück mit Adagio überschrieben, was tatsächlich bequem meint, jedoch: Warum hat er sich die Mühe gemacht, allerkleinste Verzierungen penibel genau aufzuschreiben? Ich setze voraus, dass die Notierung ernst gemeint ist und erfüllt werden will. Was gilt es nun zu bewahren und zusammenzufügen?

Einheitliches Tempo.
Klar ausgespieltes Metrum. (Darunter verstehe ich klare Proportionen zwischen den unmittelbar nacheinander vorzutragenden Notenwerten.)
Klar ist, dass die beiden Forderungen unmöglich gleichzeitig erfüllt werden können. Hier müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Kunst die Verhältnisse der realen Welt wiedergibt, jedoch nicht durch Tatsachen, sondern durch Eindrücke. Nicht umsonst sprechen wir vom Ausdruck.


III.
Das Rhythmusgefühl des Menschen ist primär vom Tag/Nacht- und dem Jahresrhythmus geprägt. Sind diese beiden Rhythmen mechanisch, unveränderlich, etwa wie ein Metronom? Bis vor ca. 50 Jahren hat man dies geglaubt. Seitdem Präzisionsuhren existieren, wissen wir, dass - gebunden an das Erscheinen der Sonnenflecken - die Erde sich schneller oder langsamer dreht. Sicherlich, die Unterschiede - einige Sekunden im Jahr - sind so klein, dass sie zu vernachlässigen sind. Doch hier geht es um das Prinzip: Die Eruptionen auf der Sonne mögen plötzlich auftreten und verschwinden. Sie haben aber Folgen im Bezug auf die Drehung der Erde um sich und um die Sonne. Diese geringen, aber nicht bedeutungslosen Unregelmäßigkeiten in der Drehung der Erde folgen ihrer Ursache nie abrupt. Wir, die Menschen auf der Erde, merken sie überhaupt nicht - Gott sei es gedankt!

Beobachtet man die Rhythmen der Natur, sieht man, dass alle Rhythmen atmen, lebendig sind. Ich möchte es anders formulieren: Der Rhythmus beinhaltet das Rubato, dem Rubato wohnt der Rhythmus inne. Rhythmus und Rubato sind die zwei Seiten derselben Medaille.


IV.
„Die Musik beginnt dort, wo die Dichtung aufhört.“ Lessing hat Recht! Interessant wäre jedoch auch zu untersuchen, inwieweit die Musik mit der bildenden Kunst in Berührung kommt. M.C.Escher hat den Zenit und Nadir zur klassischen Perspektive dazugesellt. Da jede Melodie, um Melodie zu sein, nach oben und nach unten wechseln muß, (Kehrpunkte bildet) ist klar, daß die Oben/Unten-Fluchtpunkte für uns hier von Interesse sind. Für die Komposition eines Bildes ist der Standpunkt des Betrachters wichtig. Gibt es denn auch einen Betrachterstandpunkt in der Musik? Wenn eine Klangquelle mit konstanter, gleichmäßiger Volumenleistung und bei konstanter Geschwindigkeit an uns vorbeifährt, „erfahren“ wir, hören wir ein konstantes, in gleicher Proportion anwachsendes bzw. sich minderndes Klangvolumen. Der Schwerpunkt ist dort, wo das Diminuendo beginnt, der Leichtpunkt - wo das Crescendo einsetzt. So ist einzusehen, daß es auch in der Musik einen Betrachterstandpunkt gibt.

Und was lehrt uns die klassische Perspektive? Stellen wir uns vor: Auf eine glatte Fläche legen wir 10.000 Platten mit 5 Meter Seitenlänge in Reihen von je 100 Platten. Wenn wir in der Mitte vor der ersten Plattenreihe stehen, werden wir bemerken, daß die Platten zum Fluchtpunkt hin mit gleichbleibendem Proporz kleiner erscheinen. (Wenn eine Gestalt sich zu uns hin bewegt, erscheint sie uns - in gleichbleibendem Proporz - immer größer.) Die Prinzipien der klassischen Perspektive sind identisch mit den Prinzipien des Rubato: Der Proporz der sich durch Rubato verändernden gleichen metrischen Einheiten muss gleichbleibend vermittelt werden. Wenn einem Zuhörer die metrischen Einheiten während der Rubatoveränderungen nicht einwandfrei erkennbar sind, können wir nicht von Rubato sprechen, eher von Bearbeitung. Das in klaren Proportionen atmende Metrum fixiert den Charakter, offenbart den Sinn der Musik.


V.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Musik den Ausdruck der realen Welt wiedergibt, scheint es nicht mehr schwierig, das einheitliche Tempo und das klar ausgespielte Metrum zu wahren. Wie erscheint die reale Welt in der Musik? Konstantes, gleichmäßiges Volumen, konstante Geschwindigkeit, konstante Proportionen... Alles, was konstant ist, ist Symbol des Kontinuums. Alles, was Veränderung ist, ist Symbol des Zeitlichen, des Menschlichen. Beide zusammen, das Kontinuum und das Zeitliche, bilden die reale Welt - eine philosophische Kategorie. Wenn die Veränderungen (Symbol des Zeitlichen) mittels konstanter Proportionen (Symbol des Kontinuums) ausgeführt werden, erscheint das Geistige. Inwieweit ist es möglich, auf konstante Proportionen zu verzichten? Spätestens dann, wenn das zu spielende Stück nicht mehr erkennbar ist, hat man mit der Auslegung künstlerischer Freiheit übertrieben. Die Übertreibung der vermeintlichen künstlerischen Freiheit, sowie ihre absolute Verneinung - das ausgetrocknete rechthaberische Spiel eines sich ganz dem Erfüllen aller ihm suggerierten oder sich selbst auferlegten Regeln Hingegebenen, lassen die Aussage der Musik verstummen. Wo ist hier die goldene Mitte? Wie bei jeder Erscheinung unserer Welt, ist auch in der Musik der Zeitpunkt des Auftretens der Erscheinung das Ergebnis eines Kampfes zweier entgegengesetzter Kräfte.


VI.
Seitdem ich alle Sechs Soli in einem Konzert spiele, habe ich erkannt, dass es sich hierbei um eine Art Passion handelt. Tatsächlich hat Bach viele Wendungen und Möglichkeiten aus den Sechs Soli in seinen später geschriebenen Passionen verwendet. Jedoch auch hierin möchte ich mich nun nicht vertiefen. Gleichwohl sei gesagt, dass das Adagio in g-moll als Eröffnungsstück einer Passion von enormer geistiger Kraft durchströmt ist. Da hier die gewöhnliche kleine metrische Einheit die 32tel ist, sollte man sie als Grundpuls beibehalten. Als nächstgrößeren Grundpuls sollte man die Halben der rhythmischen Akkordsäulen nehmen. Dazu kommt die Überlegung, daß die Zeit in einem Akkord mit dem Erscheinen des Soprans beginnt.

Das Tempo soll man so wählen, dass die ersten vier Akkorde als Ausdruckseinheit erkennbar bleiben, wobei der Grundpuls der 32tel, der als ruhig zu erscheinen hat, auch beachtet werden will. Weil die zwei 64tel vor dem zweiten Akkord auch als ruhig zu erscheinen haben, beginnen wir ab der zweiten 32tel der Zählzeit 2 (erste hörbare 32tel) mit einer Tempoverlangsamung, welche für die Ruhe der zwei 64tel vor dem zweiten Akkord bürgt. Von der letzten 64tel nehmen wir die Hälfte ihrer Zeit weg, um darin den Bass des folgenden Akkords „vor der Zeit“ zu holen. Mit dem Eintreffen des Soprans in dem Akkord kehren wir unvermittelt zum Tempo zurück, welches bei dem ersten Akkord zugrunde gelegt wurde und die erste hörbare 32tel angezeigt hatte. Mit dieser „Technik“ begegnen wir „bequem“, also adagio, allen Widrigkeiten des Textes. Natürlich orientiert sich die Verlangsamung jedesmal an den vorherrschenden Notwendigkeiten. So ist sie im Takt 3, wo die letzten kleinen Noten 128tel sind, viel größer als z.B. im Takt 1. Das Prinzip jedoch bleibt immer gleich: Das Tempo kehrt bei jeder Möglichkeit zum Tempo primo zurück und bleibt, so lange es möglich ist, konstant. Dieses immer wieder durch unterschiedliche Verlangsamungen unterbrochene konstante Tempo vermittelt dem Zuhörer das Gefühl fürs Kontinuum; die maßvollen, in gleichem Proporz bleibenden Verbreiterungen, die der Interpret je nach der ihm erscheinenden Notwendigkeit austariert, lassen alles im Zeitlichen aussprechen, was das Stück mitteilt.

Die hier beschriebene Rubatoart ist also immer von dem gleichen Tempo ausgehend mit einer Verlangsamung verbunden, die von einem Notwendigkeitsgefühl gesteuert ist. Danach kehrt das Tempo unvermittelt zurück. Wenn man nur das so beschriebene Rubatoprinzip befolgte, gäbe es keinen Grund zum Rubato in Takt 2. Und doch! Da erscheint die klassische Rubatoart: die vier Akkorde bilden eine Aussageeinheit, die abgerundet werden will. Und natürlich muss! Jede musikalische Aussageeinheit will atmen und abgerundet sein. Auch hier ist der Goldene Schnitt von größter Bedeutung. Man hat zu wählen: Einerseits die trockene Art eines Rechthabers, der sich weigert, Empfindungen sich und der Musik zuzugestehen; andererseits das halt- und proportionslose Improvisieren, wobei der Interpret wegen seiner viel zu lauten künstlerischen Verwirklichung den Sinn der Musik nicht zu hören vermag. Die Devise hier ist altbekannt: Erkenne es und übertreibe nichts.


VII.
Wenn jemand etwas erzählt, bleibt er bei etwa gleichem Rhythmus, solange das gleiche Gefühl währt. Wenn er jedoch zum Kern seiner Aussage kommt, verlangsamt er den Rhythmus des Sprechens. Nachdem das Wichtige gesagt ist, kehrt unser Sprecher zurück zum Tempo primo - es sei denn, ein sich neu etablierendes Gefühl hätte ihn zu einem anderen Tempo übergeleitet. Dieses Zurückkehren kann, wie oben bereits erörtert, plötzlich geschehen, oder allmählich durch ein angemessenes Accelerando. Ein sprechender Mensch macht diese und alle anderen Rubato-Arten natürlich, ohne Bemühung, also gefühlsmäßig. Maßgebend dabei ist sein inneres Wissen davon, was er sagen will und sein Erfahrungswissen, wie er es am besten tut.

In der Musik, wie sicherlich auch bei der Sprechkunst, existieren viele Gründe dafür, daß sich das Tempo etwas ausdehnt; mit dem einzigen Zweck einer klaren Aussage. Im folgenden möchte ich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige solcher musikalischen Gründe erwähnen.


VIII.
Dissonante Intervalle verursachen Veränderungen im Raum (die Unterschiede im Klangvolumen, also in der Dynamik, finden im Raum statt: In dem gleichen Raum befindet sich zu gegebener Zeit mehr oder weniger Klang) und verbrauchen mehr Zeit als konsonante.

Die Dissonanten Intervalle sind:

1. Einfache: harmonische (gleichzeitig klingende) und melodische (nacheinander klingende). [Melodische Sekunden-Schritte gelten eher als neutral.

2. Zusammengesetzte: „Falsche Summen“ - wenn die Kehrpunkte der Melodie Dissonanzen bilden.

Die einfachen dissonanten Intervalle verursachen eine Extra-Ausdehnung des Tempos, [z.B. der erste Akkord im Takt 2 des Adagio g-moll verspätet sich wegen der übermäßigen Quinte von B - die letzte 64tel im Takt 1 - zu Fis im Sopran des folgenden Akkords (melodische Dissonanz)]; derselbe Akkord muß dazu kräftiger kommen - wegen des Tritonus C/Fis (harmonische Dissonanz)

Die zusammengesetzten dissonanten Intervalle spielen ihre Aussagekraft zu den weiter oben schon erörterten „objektiven“ Rubato hinzu, indem sie im vorhandenen Fluß der Musik das Tempo zusätzlich verlangsamen und auch das Volumen zusätzlich an- bzw. abschwellen lassen. Z.B. Takt 10 des Adagio

g-moll: Die einsetzenden 32tel bilden erst nach oben eine Oktave, dann nach unten jedoch eine kleine None, die - zusätzlich - eine verminderte Oktave beinhaltet, was zu einer Trübung in dem Tempofluß und gleichzeitig zu einem ziemlichen An- oder Abschwellen des Klangvolumens führt. Hier sehen wir auch die Besonderheit, daß nicht nur die Kehrpunkte als Aussagekräftig zu werten sind, obwohl deren Aussage immer mehr Kraft hat als die der Zwischenintervalle.

Von Bedeutung ist bei den dissonanten Intervallen wie sie aufgeschrieben sind und nicht wie sie tatsächlich klingen. Eine verminderte Septime klingt wie eine große Sechste, z.B. das untere Intervall im ersten Akkord, Takt 13 im Adagio g-moll (harmonisch); die verminderte Septime in der Mitte Takt 1, Allemanda d-moll (melodisch); eine verminderte Quarte - wie eine große Terze: in der zweiten Gruppe von 64teln im Takt 18, Adagio g-moll (Falsche Summe). Sollte der Interpret die Dissonanzen nicht als solche zu erkennen geben, könnte man sagen, er spiele falsche Intervalle: Sechsten statt verminderter Septimen; Terzen statt verminderten Quarten. Aber auch andersherum: Wenn die Konsonanten als Dissonanzen vorgetragen werden.


IX.
Dissonante Intervalle sind Punkte in den Spannungsfeldern der Musik. Hörbare oder versteckte, konsonant klingende dissonante Intervalle sollen als solche kenntlich gemacht werden; die von ihnen ausgehende musikalische Spannung muss zum Zuhörer weitergeleitet werden. Wie leitet man diese Spannung weiter? Sehr oft wird der Zielton eines spannungsgeladenen Intervalls mit einem Akzent markiert. Schade! Auf diese Weise verpufft die innere Kraft der Musik in äußerer Nichtigkeit. Durch die inneren Veränderungen im Raum und in der Zeit spricht die Spannung zum Zuhörer. Während bei einfachen melodischen Dissonanzen nur Verbreiterung in Frage kommt und jedes spezielle wegen der Spannung aufkommende Accelerando, weil kontraproduktiv, ausgeschlossen bleibt, kann sowohl ein Crescendo wie auch ein Diminuendo die Spannung zum Publikum leiten. Die harmonischen Dissonanzen, die, wie jede Dissonanz auch, zugleich Schwerpunkte sind, müssen wir rechtzeitig vorbereiten, weil sie ihre Wirkung im musikalischen Zeitraum im voraus entwickeln. Sie erwecken Erwartungen beim Zuhörer.

Wichtig bei der Falsche-Summen-Dissonanz ist, daß die Veränderungen mit dem ersten Ton des Kehrpunkts einsetzen und den ganzen Raum der Falschen-Summe ausfüllen. Mindestens genau so wichtig ist auch, dass die Veränderungen gleichmäßig vonstatten gehen, ohne dass die klaren Proportionen zwischen den unmittelbar nacheinander vorzutragenden Notenwerten verfälscht werden. Die dabei eventuell auftretenden Zwischenintervalle und einfachen melodischen Dissonanzen entwickeln ihre Wirkung zusätzlich. Kommt hier ein Accelerando hinzu, wirkt die Musik romantisch. Bei aufmerksamem Zuhören seitens des Interpreten hat diese Art des Vortrags in der romantischen Musik freilich ihren Platz.

Natürlich kann man die Wirkung der Dissonanzen und das Weiterleiten der Spannung - auch unbeabsichtigt - aufschieben. Dann aber wächst die allgemeine Spannung, die sich hernach um so heftiger zu entladen sucht. Findet die Entladung nicht statt, verpufft die Spannung: Die Musik wirkt billig, alles erscheint künstlich. Der Phantasie sind keine Grenzen des Tuns gesetzt, jedoch nichts bekommt der Kunst weniger als das Künstliche.


X.
Sforzato ist eine spezielle Art des Hervorhebens. Des öfteren wird es mit Akzent verwechselt, manchmal sogar als ein extra starker ausgelegt. Indes handelt es sich um eine besondere Rubato-Erscheinung, die, wohl gemerkt, auch einen Akzent beinhalten kann. Das Sforzato, die Bekräftigung, ist eine Verlangsamung, die aus dem Proporz ausschert. Es handelt sich um ein gewisses Stottern, das ohne Vorwarnung, doch manchmal mit einer gewissen Vorbereitung kommt. Aber auch dann verbreitert das Sforzato das Tempo plötzlich mehr als die Vorbereitung uns vermuten ließ. Nach der Bekräftigung fließt das Tempo wieder. In den Sechs Soli für Violine hat Bach keine Sforzati verzeichnet. Und doch wird z.B. dem ersten Akkord im Takt 18, Adagio

g-moll, durch eine aus der Proportion ausscherende Verspätung, also ein Sforzato, zur größten Spannungsaussage verholfen. Aber andersherum auch: Jede aus dem Proporz ausscherende Verspätung ist ein - für den während des Vortrags dem Sinn der Musik nicht klar zuhörenden Interpreten offensichtlich unhörbares, jedoch für jeden Zuhörer klar wahrnehmbares - unlogisch erscheinendes Sforzato.


XI.
Die Drei-Legati fordern auch ein Rubato. Sie sind als Rubato-Zeichen zu lesen. Es handelt sich um drei legatierten Klänge gleichen Werts in einer Vierer- oder Sechsergruppe, die am Anfang einer Gruppe stehen. Der erste Klang der Drei-Legati markiert einen Schwerpunkt, also ab diesem Klang hat ein Diminuendo einzusetzen. In dem Adagio g-moll kommen vier solche Gruppen vor: Takte 6, 11 und 19. Bezeichnend ist, daß viele Kollegen die letzte Gruppe im Takt 19 „berichtigen“, weil die entsprechende Gruppe bei der Exposition im Takt 6 als zwei+zwei Legati angegeben ist. Meines Erachtens bekommen im Takt 19 die zwei nacheinander kommenden gleichen Figuren durch die zwei hiervon hervorgerufenen nacheinander folgenden Schwerpunkte die ihnen gebührende Rolle und Bedeutung. Ein allzu sorgloser Umgang mit dem Text (für mich sind die Bach’schen Bindebögen Teile des Texts) lässt den geistigen Inhalt verschleiern. Schwerpunkte wirken erschwerend auf das Tempo, verursachen eine Krümmung des musikalischen Universums genauso wie die Materie in der kosmischen Raumzeit.

Wenn man die Bach’schen Striche deutet (er war ja auch Geiger und wusste genau was er schreibt!) statt zu versuchen sie zu „vereinfachen“, sieht man, dass die angegebenen Striche unter Bewahrung der dynamischen Linien ein farbiges Spiel erfordern. Sollte eine Vereinfachung absolut erforderlich erscheinen, muss man zumindest die aus seinen Strichen sprechende Idee zu bewahren trachten. Aufmerksames Hinhören bewahrt davor, wegen eigentlich kleiner Unbequemlichkeiten den musikalischen Sinn aufzugeben.

Die dynamischen Veränderungen müssen genauso wie die Rubato-Veränderungen in gleichbleibenden Proportionen sein. Sicherlich ist es anfangs etwas beschwerlich, wenn man das Drei-Legati-Gesetz in den Sechs Soli überall, wo es steht, erfüllt. Doch, angesichts des Farbenreichtums des Klangs und der Klarheit der geistigen Aussage der Musik, ist man letztendlich auch froh über die zunächst beschwerliche Technik. Die Drei Legati sind von Bach stets sinngebend angeordnet. So z.B. in der Allemanda d-moll wie auch in der Ciaccona - Takte 29-32 und 37-45 - verschieben sie, weil unsymmetrisch, die Schwerpunkte und das Rhythmusgefühl. Heutzutage würde man es vielleicht durch Taktwechsel anzeigen.


XII.
Hier wurde der Zusammenhang zwischen Dynamik und Rubato angesprochen. Bei beiden Begriffen handelt es sich um zwei von einem Betrachter wahrgenommene Aspekte der Musik. Jedes musikalische Ereignis ruft musikalische Raumzeit hervor, bzw. existiert zugleich in dem musikalischen Raum als Dynamik und in der musikalischen Zeit als Rhythmus. Es ist ein Reichtum, dass die Menschen die Raumzeit als zwei getrennte Aspekte wahrnehmen können. Der Versuch nur einen dieser Aspekte der lebendigen Musik tatsächlich einzeln zu respektieren (meistens mittels eines Metronoms), endet mit dem Tod dieses Musikstückes. (Der Zuhörer spricht von „todlangweilig“.) Jede Spielart des Zusammenhangs zwischen Dynamik und Rubato und jeder Grad der Veränderung einer oder beider Komponenten bringen ihren spezifische Ausdruck mit. Mathematisch gesehen existieren vier Möglichkeiten:

1. Crescendo mit Accelerando. [Dies eröffnet die Möglichkeit, das Tempo bzw. die Lautstärke zu verändern, ohne dass der Zuhörer es klar wahr nimmt.]

2. Crescendo mit Ritenuto. [Ohne große Anstrengung des Spielers nimmt das Publikum das sich vergrößernde Volumen wahr.]

3. Diminuendo mit Accelerando. [Ähnlich wie 1. mit umgekehrtem Vorzeichen.]

4. Diminuendo mit Ritenuto. [Wiederum ähnlich wie 2., auch mit umgekehrtem Vorzeichen.]

Die in die großen Klammern gesetzten Optionen fordern ein bestimmtes Maß der zwei Komponenten zueinander. Alle Spielarten und alle Grade der Veränderung einer oder beider Komponenten in ihrem Zusammenwirken mit- oder gegeneinander kann man auch rein intellektuell zusammenmischen. Das daraus resultierende Konkretisieren der Spielart und des Grades der Veränderungen des musikalischen Zeitraums allerdings ist die Domäne des musikalischen Fühlens, des musikalischen Gefühls: die Geburtstätte des Ausdrucks. Je empfindsamer ein Mensch ist, desto mehr kann er (mit dem Herzen) „verstehen“, was die Musik zu ihm „spricht“. Jeder unvoreingenommene Zuhörer hört es, wenn das Kontinuum durchklingt, und sagt, er verstünde die Musik. Wenn er aber das Kontinuum nicht heraushört, spricht er von fehlender musikalischer Ausbildung... Ein fein geschultes Ohr benötigt der Interpret, um die Symbole des Kontinuums - klare Proportionen zwischen den Notenwerten bei allen Raumzeitveränderungen - zu hören.


XIII.
Was ist Ausdruck? Wenn ein Mensch z.B. ärgerlich oder fröhlich ist, und dies - aus welchen Gründen auch immer - verheimlichen will, ist es dennoch spürbar. Ärger oder Freude „strahlen“ ihm aus den Augen, „sprechen“ aus seinem Gang, aus seiner Art zu gucken, sich zu geben... Die Körpersprache, sein ganzes Verhalten verraten Spannungsfelder in deren ganzer Komplexität, drücken diese aus. Die Gefühle - sowohl bei Menschen, wie auch bei der Musik - sind Ausdruck dieser Spannungsfelder. Bei der Musik sprechen wir von Sinn.

Was im Musiktext notiert steht, ist bereits der Ausdruck des Sinns einer von einem Menschen „gefassten“ Musik. Es gilt, durch diese Notizen zurück zur Muse zu finden, damit sie dem Interpreten verständlich macht, was sie dem Komponisten mitteilen wollte. Denn, niemand kann alles aufschreiben, was die Musik ihm sagt. Auch kann niemand alles so vollkommen spielen, wie es die Musik im Moment des Erklingens möchte. Doch eine Annäherung ist möglich. Nur, beim „nächsten Mal“ will die Musik anders, und es gilt dies zu berücksichtigen, ihr in allen ihren „Kapriolen“ immer zu folgen. Sonst würde es keine Vielfalt geben, alles könnte zwar vollkommen sein, doch immer identisch gleich, und somit - in unserer Welt der Veränderungen - unmöglich. Worum geht es hier?

Zunächst: Ist die Muse eine Person? Ich erlaube mir die Kräfte der Musik zu per-son-ifizieren, auch wenn diese Etymologie nicht ganz unumstritten ist. Was klingt da durch? Auf jeden Fall ist die Muse eine göttliche Vermittlerin, die sich immer, wenn Menschen sie rufen, sich mit Musik befassen, bei ihnen einfindet. Und was sind das für Kapriolen, denen es zu folgen gilt?

Wer einen Musiktext bloß textgetreu „abspielt“, der buchstabiert entweder Zellen oder Gewebe und Glieder eines toten Körpers. Jede auch noch so kleine Aussageeinheit der lebendigen Musik will atmen, sich bewegen. Den Sinn der atmenden Bewegungen der Musik in der Raumzeit versteht jeder empfindsame Mensch. Die konstanten Proportionen aller Raumzeitveränderungen lassen uns die Einheit des Rubato mit dem Rhythmus in der Musik fühlen und erleben. Wie man auch die reale Welt als eine Einheit von Zeitlichem und dem Kontinuum fühlt und erlebt.


XIV.
Hat Bach alles aufgeschrieben, was ihm die Muse sagte? Auf jeden Fall hat er das Feld, welches die Muse beansprucht, für sie reserviert und frei gelassen: Außer einpaar Echos hat er keine weiteren zusätzlichen Wünsche fixiert. Jedes musikalische Gefühl und jede Nuance der erklingenden Musik drückt sich improvisierend in den feinsten Abstufungen des Volumens und des Rubato aus. Das improvisierende Spiel präzisiert alle Schattierungen des auszudrückenden Gefühls. Dies hat zur Folge, dass alle Artikulationen und Klangfarben konkretisiert werden. Die nuanciert präzisierten Artikulationen und Klangfarben verlangen immer nach entsprechend konkreten, effektiven Bogenstricharten; oft auch nach neuen Fingersätzen, zumal das Präzisieren einiger Teile eines Stückes dessen Grundstimmung des öfteren umwirft. Was bleibt aber dann vom gelernten Stück? Der Text! Die notierte Klänge als Hülle und Position: Höhe, Metrum, Name; dazu die musikalische und die instrumentale Grammatik.


XV.
Mein Versuch, einen Diskussionsbeitrag über Rhythmus, Metrum und Rubato beizusteuern, spricht lediglich Faustregeln aus. Denn, das Wesen der Musik kann nicht durch Worte ausgedrückt werden, es entzieht sich jedweder Formulierung. Rhythmus, Metrum und Rubato sind drei lebendige Aspekte, die für das Musikerherz zwingend sind. Außenstehenden, dem Publikum, scheint es, dass Künstler mit „Augenmaß“ (die Musiker natürlich mit Ohrenmaß) arbeiten. Der Künstler aber weiß: Es ist Hingabe, es ist Disziplin und Demut.

Refrath, den 16. August 2000


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